Was ist eine systemische Mastzellaktivierungs-erkrankung (MCAD) ?

Mastzellen finden sich in allen Geweben und Organ­en und zählen zu den wichtigsten Stütz­en des Immun­systems. Sie bilden und spei­chern näm­­lich eine Viel­zahl von Mediatoren (> 400), mit denen sie bei Kontakt mit Viren, Bak­te­ri­en, Parasiten und Al­ler­genen die passend­en Immun­reak­tionen ein­leiten, ver­stärken und koor­dinieren können. Bei Menschen mit einer MCAD sind diese Einsatz­leiter der Im­mun­abwehr je­doch aufgrund von multiplen genetischen Defekten auch ohne äußeren Anlaß aktiviert.
Die MCAD (früher undifferenziert als "Mastozytose" bezeich-net) ist eine multifaktorielle, angeborene Erkrankung. Durch ein krankhaft verändertes Epigenom kommt es in einigen Stammzellen, aus denen sich Mastzellen entwickeln, zu Mutationen in regulatorischen Genen. Dies führt in den be-troffenen Mastzellen zu Mutationen in strukturellen Genen, die für Rezeptoren oder Proteine von intrazellulären Signal-übertragungsketten kodieren. Diese mutierten Mastzellen sind autonom, also ohne äußeren Reiz, aktiv und/oder reagieren auf minimale äußere Reize mit einer unange-messenen Aktivierung und daraus resultierender Freisetzung von Botenstoffen, Mediatoren genannt. Auf diese Weise aktivieren sie kaskadenartig gesunde Mast­zellen in ihrer Umgebung im Gewebe, so dass diese auch unangemessen Mediatoren freisetzen.


Hypothetische Pathogenese der MCAD und deren Komorbiditäten

Durch unangemessene Freisetzung der Mastzellmediatoren kommt es in den betroffenen Organen und Geweben zu Funktionsstörungen, die sich klinisch als Beschwerden zeigen, unter denen die Betroffenen so sehr leiden. Die Beschwer­den durch unkontrol­liert aktive Mast­­zellen kön­nen so gravierend sein, dass die Patien­ten bis zur Invali­dität beein­trächtigt sind. Entgegen der immer noch weit verbrei-teten Ansicht ist die systemische Mastzellaktivierungs-erkrankung keine sel­te­ne Erkrankung, sie wird nur zu selten diagnostiziert: 17% bis 20% der Bevölkerung sind in der nördlichen Hemisphäre von dieser Erkrank­ung in unter-schied­li­cher Ausprägung und Inten­si­tät betroffen.

Die Erkennung der Erkrank­­ung ist wegen der facetten-reichen und unspezifi­schen Symptomatik für den mit der Erkrankung unerfahrenen Arzt schwier­­ig, insbeson­dere weil in der Regel keine oder allen­falls geringe Veränd­er­ungen von Labor­wer­ten und Ergebnissen bildge­ben­der Verfahren bestehen. Zudem ist unter Ärzten die systemische Mastzell-aktivierungserkrankung noch wenig be­kannt. Wichtig ist daher die Aufklärung über die Krankheit, die Ent­wicklung von labor­chemischen Indika­tor­en sowie von neuen effektiveren Medi­ka­men­­ten als die bislang verfügbaren, um eine belastende Fehl­diagnose als psychosomatische Störung vermeiden und den derzeit häufig unbefriedigenden The­ra­pie­erfolg wesent­lich verbessern zu können.

Nachstehend finden Sie eine Darstellung des Vorgehens in der Diagnostik der MCAD:
Ob für Beschwerden eine krankhafte Mastzellüberaktivierung verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich ist, kann in einem spezifischen Untersuchungsvorgehen geklärt werden. Mit einer standardisierten, validierten Anamnesecheckliste (kann von der Homepage von Prof. Molderings herunter-geladen werden) kann das Vorliegen eines
Mastzellmediator-freisetzungssyndroms festgestellt werden; es wird also untersucht, ob die Beschwerdenkonstellation bei einem Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine unange-messene, unkontrollierte Freisetzung von Mastzellboten-stoffen zurückzuführen ist. Bei einem Punktwert in dieser Checkliste von 14 und mehr Punkten besteht eine Wahr-scheinlichkeit von 95%, dass die Beschwerdekonstellation Folge einer unkontrollierten Mastzellbotenstofffreisetzung ist (das eine oder andere Symptom kann dabei durchaus auch durch zusätzliche Erkrankungen mitverursacht sein). Dies ist also noch keine Diagnose, sondern nur die Feststellung des Symptomenkomplexes. Der Ausschluß der im Anhang zum Fragebogen aufgeführten Erkrankungen erhärtet den Verdacht, dass die unkontrollierte Mastzellbotenstofffrei-setzung auf eine systemische Mastzellaktivierungs-erkrankung (MCAD) zurückzuführen ist. 

Notwendig zur Diagnosesicherung, Subtypisierung einer MCAD und Therapievorbereitung ist es bei Verdacht auf eine MCAD, die Gehalte der Mastzellbotenstoffe Tryptase, Heparin und Histamin im Blut sowie Serotonin (bzw. dessen Abbauprodukt 5-Hydroxyindolylessigsäure) und Methylhist-amin (das wesentliche Abbauprodukt von Histamin) im Sammelurin zu bestimmen. Der Nachweis einer normwerti-gen Tryptase spricht nicht gegen das Vorliegen einer MCAD, sondern schließt lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 70-80% das Vorliegen der MCAD-Variante systemische Mastozytose aus. Bei der als systemisches Mastzellakti-vierungssyndrom bezeichneten Variante der MCAD, die die mit Abstand häufigste Form einer MCAD ist (Häufigkeit in Deutschland ca. 17%), fehlt durchgängig eine wesentliche Erhöhung des Tryptasespiegels im Blut. Zusätzlich sollte die Blutgerinnung untersucht werden. Zum einen wird Heparin ausschließlich in Mastzellen gebildet und ist daher bei einer systemischen Überfunktion der Mastzellen häufig im Blut erhöht. Zum anderen besteht bei einer Mastzellüberakti-vierung praktisch immer eine Blutungsneigung und ggf. gleichzeitig eine Thrombophilie (!). Diese Blutgerinnungs-untersuchung muß in einem hämostaseologischen Labor an frisch abgenommenen Blut durchgeführt werden, da die Untersuchungen bei falscher Handhabung der Blutprobe falsch-negative Werte liefern. Die Kosten für diese ambulante Untersuchung werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Gesetzlich krankenversicherte Patienten brauchen hierzu eine Überweisung des Hausarztes an einen Arzt für Transfusionsmedizin mit dem Auftrag Abklärung einer Gerinnungsstörung bei Verdacht auf Mastzeller-krankung.
Wegen der nahezu immer bestehenden Magenschleim-hautentzündung ist eine Magenspiegelung und bei bestehender Darmsymptomatik auch eine Darmspiegelung unumgänglich. Hierbei werden Gewebeproben entnommen (auch aus optisch unauffälligen Schleimhautbereichen), die dann im pathologischen Labor entsprechend immunhisto-chemisch mit CD117-Antikörpern, Tryptase-Antikörpern und CD25-Antikörpern untersucht werden sollten. Dabei ist die Auszählung der Zahl an Mastzellen wichtig, da abhängig von der Art der krankheitsursächlichen genetischen Veränder-ungen in den erkrankten Mastzellen nicht unbedingt eine Zusammenlagerung in Zellnestern erwartet werden kann. Der untersuchende Pathologe sollte daher ausdrücklich beauftragt werden, die Mastzellen auszuzählen und die Dichte im Befundbericht aufzuführen. Eine Dichte von mehr als 19 Mastzellen pro Gesichtsfeld wird zur Zeit international als erhöht angesehen. Aus der Mastzelldichte kann der Tryptase-Depletion-Index (TDI) bestimmt werden (= Anzahl der CD117-positiven Mastzellen minus Anzahl der Tryptase-positiven Mastzellen). Je großer der Wert ist, umso größer ist die Zahl der aktivierten Mastzellen. Der TDI ist eine wichtige Kenngröße, da die Aktivität der Mastzellen die Symptomatik bestimmt und nicht deren Anzahl. Morphologisch, also vom Aussehen her, kann man Mastzellen bis auf wenige Ausnahmen (Vorliegen der Mutation D816V in der Tyrosin-kinase KIT) in den üblichen Standarduntersuchungen nicht ansehen, ob es sich um eine Anreicherung gesunder Mast-zellen oder um einer Zunahme genetisch veränderter, aktivierter Mastzellen handelt.
Daneben sollte bei allen Patienten eine Bestimmung der Knochendichte mit dem DEXA-Verfahren durchgeführt werden, weil bei längerem Verlauf der Erkrankung nahezu regelhaft eine Verminderung der Knochendichte vorliegt.

Bei Beachtung der Vorsichtsmaßnahmen und der Besonder-heiten in der Durchführung der endoskopischen Untersu-chungen (spezifische Prämedikation) und der Ausführung der immunhistologischen Untersuchungen der Gewebeproben in der vorgenannten Weise können grundsätzlich die diagnosti-schen Maßnahmen durch niedergelassene Ärzte der verschiedenen Fachdisziplinen durchgeführt werden.

Nach Diagnosestellung ist zu überlegen, ob eine Knochen-marksbiopsie aus dem Beckenkamm durchgeführt werden sollte unter den für MCAD-Patienten notwendigen Vorsichts-maßnahmen (MCAD-spezifische Prämedikation und 2-6 stündige Kompression der Punktionsstelle durch Lagerung auf einem Sandsack). Hierzu muß (wie für alle anderen genannten Untersuchungen) eine bestehende Medikation zur Beruhigung der Mastzellen nicht abgesetzt werden. Sinn der Knochenmarksbiopsie ist es, (1) eine Information über den derzeitigen Status quo im Knochenmark zu erhalten, der bei einer späteren Verschlimmerung der Erkrankung zu Ver-gleichszwecken bei Überlegungen in Bezug auf immunsup-pressive Therapien herangezogen werden kann. (2) Nur in einer solchen Untersuchung kann festgestellt werden, ob und ggf. in welchem Ausmaß das Knochenmark mit Mastzellen infiltriert und geschädigt ist. Allerdings spricht eine fehlende Mastzellinfiltration des Knochenmarks nicht gegen das Vor-liegen einer MCAD. Insbesondere das systemische Mastzell-aktivierungssyndrom zeichnet sich durch das Fehlen optisch krankhaft veränderter Mastzellen in Biopsien aus. (3) Nur mit einer solchen Biopsie kann eine eventuell bestehende leukämische Zusatzerkrankung, die bei der Variante systemi-sche Mastozytose im Verlauf der Erkrankung in bis zu 30% der Fälle auftreten kann, rechtzeitig erkannt werden.

Nach Stellung der Diagnose ist eine komplexe medikamen-töse Therapie notwendig, die aus einer Dauertherapie zur Reduktion der Mastzellaktivität und bei Bedarf einer symptomorientierten Therapie besteht. Wegen der Besonder-heiten der individuellen Mastzellen muß die medikamentöse Therapie den individuellen Bedürfnissen in Zusammen-setzung und Dosierung initial und im Verlauf der Erkrankung der jeweiligen Krankheitsintensität angepaßt werden. Vor oder spätestens mit Beginnn der medikamentösen Therapie sollte für einige Wochen auf den Genuß von gluten-, kuhmilcheiweiß-, rindfleisch- und backhefehaltige Nahrungs-mittel verzichtet werden, da diese über eine unspezifische Stimulation des Immunsystems im Darm der mastzellberuhi-genden Wirkung der Medikamente entgegenwirken könnten. Die Durchführung und Begleitung der Therapie kann nach Diagnosestellung aus logistischen Gründen nur durch die den Patienten behandelnden niedergelassenen Ärzte erfolgen. Das heißt, die Betreuung und Kontrolle der medi-kamentösen Therapie von MCAD-Patienten ist die Aufgabe des Hausarztes, bei dem idealerweise alle Befunde, die zur Diagnosestellung notwendig sind, zusammenlaufen sollten. Es ist, positiv formuliert, nicht leicht, einen Arzt zu finden, der die Behandlung dauerhaft übernimmt. Bei der Suche nach einem MCAD-Patienten behandelnden Arzt in Wohnortnähe könnte unter Umständen der Selbsthilfeverein Mastozytose e.V. (http://www.mastozytose.de/index.php) weiterhelfen.

Ein wichtiger Hinweis zum Schluß: Da Mastzellen zu den entscheidenden Steuerzellen des Immunsystems gehören, sollte bei Verdacht auf eine MCAD jede Form der Manipu-lation des Immunsystems, wie sie z.B. bei Eigenblut-behandlung oder Apheresetherapie auftritt, unbedingt unterbleiben. Dadurch sind dramatisch verlaufende MCADs klinisch ausgelöst worden.